Normale Neurotiker wie wir

von Jean Liedloff

Wenn ich gefragt werde, was für eine Sorte von Menschen mich in meiner Privatpraxis aufsucht, sage ich manchmal: „Normale Neurotiker wie wir“ oder „erwachsene Kinder von ‚normalen‘ Eltern“. Die meisten Leute lächeln dann traurig und wissen genau, was ich meine.

Ich hatte nie beabsichtigt, das zu tun, was ich heute tue, noch habe ich diese Sachen in der Schule gelernt. Es ergab sich aus jahrelangem Interesse für das, was ich inzwischen als ein weitverbreitetes Krankheitsbild ansehe, als eine Tragödie, von der wir alle in unserer westlichen Gesellschaft irgendwie betroffen sind.

Unsere große westliche Krankheit

Die ganze Geschichte begann, als ich zum erstenmal in Europa war und zur Teilnahme an einer italienischen Expedition in den südamerikanischen Dschungel eingeladen wurde. Sie wollten nach Diamanten suchen, aber mir war jeder Vorwand recht. Die ‚Tarzan‘-Geschichte von Edgar Rice Burrough, die ‚Grüne Villa‘ von W. H. Hudson, ja schon das Wort Dschungel selbst übten schon immer eine romantische Anziehung auf mich aus. Und so nahm ich die Arbeit als Fotografin und Reporterin der Expedition ohne große Überredung an.

Während der fünfeinhalb Monate langen Entbehrungen und Abenteuer entwickelte ich große Achtung vor dem Dschungel, und mir dämmerte ganz schwach, daß das Steinzeitleben der Indianer uns etwas über unsere menschliche Natur sagen konnte – etwas Wesentliches, das wir offenbar falsch verstanden hatten.

Erst nach drei weiteren Expeditionen in eine noch weitgehend unerforschte Gegend weiter im Westen konnte ich die Wahrheit erkennen. Das Leben und Reisen mit den Yequana und den Sanema führte mir die Beweise immer wieder deutlich vor Augen, bis ich es schließlich begriffen hatte. Nach der vierten Expedition zurück in New York, konnte ich endlich mehr tun, als lediglich unsere westlichen Ansichten darüber, was wir sind und was gut für uns ist, infragezustellen. Nach einer weiteren Expedition war ich mir endgültig sicher, daß wir falsch mit Babys und Kindern umgehen, und daß dieses Verhalten, zusammen mit anderen naturwidrigen Gewohnheiten, die weitverbreitete Entfremdung, die Neurosen und das Unglücklichsein verursacht.

In meinem Buch Auf der Suche nach dem verlorenen Glück, das ich nach jener fünften Expedition in England schrieb, konnte ich Wege aufzeigen, wie ein Großteil dieser Entfremdung vermieden werden kann. Inspiriert durch die Art und Weise, wie die Indianer ihre Kinder behandelten, plädierte ich für ständigen Körperkontakt, bis die Kleinen zu krabbeln beginnen, für das gemeinsame Schlafen mit ihnen, bis sie das Familienbett aus freien Stücken verlassen, für die Erfüllung ihrer angeborenen Erwartungen, dafür, sie nicht übermäßig zu beschützen und für Vertrauen und Respekt gegenüber ihren sich entwickelnden Persönlichkeiten.

Und dann kam die unvermeidliche Frage: wie steht es um uns? Wie kann dieses neue Verständnis der menschlichen Natur Erwachsenen helfen, die darunter leiden, daß die auf „normale“ Weise großgezogen wurden?

Ich konnte hierbei nicht auf das Beispiel der Yequana zurückgreifen, denn sie hatten keine Neurotiker unter sich, die Hilfe brauchten. Und so suchte ich nach einem Weg, das Kontinuum-Konzept auf unsere Erwachsenenbeschwerden anzuwenden. Zuerst konzentrierte ich mich darauf, wie man Erwachsenen die entscheidenden Erfahrungen der Babyzeit und Kindheit nachträglich vermitteln kann, die positive Behandlung, die ihnen entgangen war. Dieser Ansatz erwies sich als unpraktisch, kompliziert und mühselig. Danach konzentrierte ich mich auf die negativen, traumatischen frühen Erfahrungen, die ihnen unglücklicherweise nicht entgangen waren.

Während meiner Zusammenarbeit mit dem verstorbenen Dr. Frank Lake in Nottingham lernte ich das Abreagieren – „Primär“-Techniken, die es den Leuten erlauben, mit Hilfe einer besonderen Atemtechnik ihre frühesten Schrecken, den Geburtsvorgang und sogar pränatale Erfahrungen freizusetzen. Die Erwachsenen weinten und wimmerten und rollten auf dem Boden herum, oft in einem „Mutterleib aus Kissen“, von den anderen gehalten. Erinnerungen, Bilder und Bruchstücke schmerzhafter früher Erfahrungen traten regelmäßig zutage. Und als die Qualen von „normalen“ Leuten bei einer „normalen“ Geburt ausgedrückt wurden, geschah dasselbe auch mit den Ursachen vieler Ihrer Ängste und irrealen Haltungen sowie ihrer selbstschädigenden und antisozialen Verhaltensweisen. Es wurde klar, daß der unermeßliche Schaden, den sogar die liebevollsten und hingebungsvollsten Eltern in der westlichen Kultur verursachen, unterstützt von den meisten wohlmeinenden „Experten“, die Folge eines althergebrachten, tiefsitzenden Mißverständnisses der offenbar achtenswerten menschlichen Natur ist, besonders in unserer Haltung gegenüber Kindern.

Eine Zeitlang hoffte ich, daß es bereits therapeutisch wirkte, frühe Erfahrungen wiederzuerleben, daß dies der Weg der Natur sei, die verwundete Psyche zu heilen. Nach ein bis zwei Jahren, in denen ich diese Technik in meiner Londoner Praxis angewandt hatte, kam ich jedoch zu dem Schluß, daß diese Methode zwar gut zum Abreagieren sein mochte, aber nur selten das Leben der Person wirklich veränderte. Entmutigt fragte ich mich, ob es überhaupt möglich sei, die in der Kindheit erlittenen Schädigungen rückgängig zu machen.

Nach einer Pause, in der ich nicht praktizierte, öffnete ich meine Praxis wieder und hatte bald darauf einen vollen Terminkalender. In jener Zeit entdeckte ich etwas Merkwürdiges bei den normalen, neurotischen Erwachsenen: es handelte sich nicht um eine Vielfalt von „Problemen“, sondern immer um dieselbe Schwierigkeit. Obwohl die Einzelheiten und Ausprägungen des Schadens unterschiedlich waren, war die Krankheit immer dieselbe. Sie zeigte sich als ein tiefsitzendes Gefühl, falsch zu sein – nicht gut genug, nicht liebenswert, enttäuschend, unfähig, unbedeutend, unwürdig, unzulänglich, böse, schlecht oder auf irgendeine andere Weise nicht „richtig“. Und dieses Gefühl der Schlechtigkeit kam fast immer durch die frühe Einwirkung elterlicher Autoritätspersonen zustande. Und es rief starke, unbewußte Überzeugungen hervor, die entscheidend dafür sind, wie wir sowohl uns selbst als auch unser Verhältnis zu anderen Menschen sehen.

INachdem mir dies klar geworden war, suchte ich nach Worten, um zu beschreiben, wie menschliche Wesen sich fühlen müßten, um optimal zu leben, sich in ihrer Haut zu Hause zu fühlen und sich anderen gegenüber angemessen zu verhalten. Ich dachte an die Yequana und gelangte zu den Worten würdevoll und willkommen. Menschen brauchen das Gefühl, geachtet und willkommen zu sein, und sollten nicht verkrümmt, wütend oder mit Schuldgefühlen über ihre bloße Existenz beladen sein.

Das Verhalten meiner Klienten spiegelte deutlich die innere Überzeugung, wertlos oder unwillkommen zu sein, oder beides. Und ihre Erfahrungen im Leben spiegelten eine Menge negativer Erwartungen, die aus dieser unbewußten Überzeugung entstanden. Wenn ein Baby in den frühesten Lebensmonaten zum Schlafen in einem Babybettchen alleine gelassen wurde, geschrien hat, so laut es konnte, dabei mit den Armen ruderte und mit den Beinchen strampelte, und trotz allem niemanden dazu bewegen konnte, zu Hilfe zu kommen, dann wird es unweigerlich Überzeugungen entwickeln wie: „Nichts, was in meinen Möglichkeiten liegt, kann irgendjemanden dazu bringen, etwas zu unternehmen; die Leute, die ich will, wollen mich nicht; es muß falsch von mir sein, eine Antwort zu wollen; es ist falsch von mir, daß ich von meiner Mama in die Arme genommen werden will“ oder: „Ich sollte mich meiner Bedürfnisse schämen.“

Das Aufdecken der schädlichen Überzeugungen

Das Aufdecken der Art und der Ursachen unsinniger Überzeugungen wurde zu einem wichtigen Schritt, um sich von ihnen zu befreien. Meine Patienten und ich fingen damit an, nach einer frühen Erinnerung Ausschau zu halten, irgendeiner Erinnerung. Manche erwiesen sich als schöne Ereignisse, manche als traumatisch.

Nach einer Weile dämmerte es mir, daß die Ereignisse, an die meine Klienten sich erinnerten, alle etwas gemeinsam hatten, was sie aus der Menge prägender Kindheitserfahrungen hervorhob. Das erinnerte Ereignis war immer ein Ausnahmefall, wobei der Normalfall unangenehm war. Oft gehörte ein Ereignis, das als unglücklich erinnert wurde, zu einem großen Unrecht, das dem

Menschen brauchen das Gefühl, geachtet und willkommen zu sein, und sollten nicht geknickt oder wütend oder mit Schuldgefühlen über ihre bloße Existenz beladen sein.

Kind von einem seiner üblichen Richter angetan wurde – meistens ein Elternteil, manchmal aber auch ein Lehrer oder eine andere Autoritätsperson, die die Macht hatte, das Kind von seiner grundlegenden Schlechtigkeit zu überzeugen.

Eine Patientin, die voll und ganz von ihrer absoluten Schlechtigkeit überzeugt war, erinnerte sich, wie sie im Alter von sieben Jahren an einem Malwettbewerb in dem Club ihrer Eltern teilnahm und den ersten Preis gewann: einen Aschenbecher. Sie fühlte sich betrogen – verraten von ihren Eltern und deren Freunden. Mit hörbarer Entrüstung beschrieb sie, wie ungerecht es war, daß man ihr sagte, sie sei die Beste, und ihr dann einen Preis gab, den sie unmöglich wollen oder gebrauchen konnte. Ich vermutete, daß sie diese Erinnerung mehr gehütet haben muß als viele andere, denn ausnahmsweise hatten sich die elterlichen Autoritätsfiguren als falsch erwiesen; sie gaben ihr einen für ein Kind total ungeeigneten Gewinn. Die Gewißheit der Fehlbarkeit ihrer Eltern gab der Patientin Hoffnung, daß sie sich über sie ebenfalls irrten; dadurch wurde ihr eigenes Falschheitsgefühl gelindert, das sie aufgrund der elterlichen Autorität angenommen hatte. Das erdrückende Gewicht der Zweifel an ihrem eigenen Wert, brachte ihren Verstand dazu, sich an diesem wertvollen Beweisstückchen zu ihren Gunsten festzuklammern.

Ein anderer Klient, dessen Vater die Angewohnheit hatte, den Sohn bei jeder Gelegenheit auf seine Schwächen hinzuweisen, hatte eine ähnliche Erinnerung. Das Ereignis dauerte nur wenige Sekunden, aber es war das einzige, woran er sich von seinem ganzen fünften Lebensjahr erinnern konnte. Er war mit seinem Vater bei einem Fußballspiel und stand am Rande des Spielfeldes, als ein Polizist ankam und zu seinem Vater sagte: „Sie sollten wissen, daß Sie hier nicht stehen dürfen. Treten Sie zurück!“ Der Vater tat dies mit schuldbewußtem Blick. In diesem Moment kam seine unangefochtene Autorität zu Fall. Er konnte also auch unrecht haben und gescholten werden und somit möglicherweise auch seinem Sohn gegenüber unrecht haben.

Für meinen Klienten war diese Erinnerung weder gut noch schlecht; sie war „nur ein Bild“. Doch es war ein Bild, das ein halbes Jahrhundert lang erhalten geblieben war, ein Hoffnungsschimmer, daß dieses Kind letztlich doch nicht so schlecht war. Und es sagte uns, wie schmerzhaft seine vergessenen Erlebnisse gewesen waren.

Es gab Zeiten, wo die Aufdeckungsarbeit in eine andere Richtung ging. Einige Klienten erzählten mir zum Beispiel, daß sie froh seien, eine Mutter gehabt zu haben, die „nur für mich lebte“, „mich anbetete“, „es liebte, mich herauszuputzen“ oder „alles kochte, was ich wollte“. Andere sagten: „Mein Vater hatte nur positive Erwartungen an mich; er sagte, ich würde ein berühmter Arzt werden und all die tollen Dinge haben, die er nie hatte.“ oder „Mein Vater nahm mich überall mit hin – zu Baseballspielen, zum Rodeo, wohin ich auch wollte“ oder „Mein Vater sagte immer, wir seien Freunde, und als ich aufwuchs, erzählte er mir alles, was er auf dem Herzen hatte – Dinge, über die er mit Mutter niemals hätte reden können.“ Die bewußte Überzeugung war: „Ich habe Glück“; die unbewußte Überzeugung war: „Meine Aufgabe ist es, meinen Eltern emotionale Unterstützung zu geben, und, egal wie sehr ich mich bemühe, ihre Bedürfnisse zu erfüllen, immer scheitere ich.“

Übermäßige Aufmerksamkeit, die die Eltern ihren Kindern in der Absicht widmen, den Abgrund ihrer eigenen Kindheitsentbehrungen aufzufüllen, können als Liebe-Nehmen gesehen werden, nicht als Liebe-Geben. Ein Kind kann nicht sagen, was es braucht, auch zu sich selbst nicht; und obwohl ein Elternteil ihm Aufmerksamkeit widmet, ändert sich nichts an seiner Bedürftigkeit. Es wächst unzufrieden auf, meistens „süchtig“ nach der unbefriedigenden Gegenwart des jeweiligen Elternteils und bemüht, dem Elternteil alles zu geben, was er braucht, damit er irgendwie, eines Tages, endlich fähig sein möge, ihm zu geben, was es braucht. In Wirklichkeit braucht das Kind jemanden, der es so respektiert wie es ist, einen ruhigen, ausgeglichenen Elternteil, der für es sorgt, bis es in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen – einen Elternteil, von dem es sich vertrauensvoll in Richtung Unabhängigkeit entfernen kann. Unglücklicherweise wird der Besitzer seiner unbewußten Überzeugungen nicht einmal merken, daß das Kind jetzt ein mündiger Erwachsener ist, der sich sein Eis selbst kaufen kann. Diese Erkenntnis bringt einem die Befreiung ein gutes Stück näher.

Überzeugungen werden in der Seele des Kindes durch die Worte der Eltern geformt, besonders durch solche, die als absolute Wahrheiten und nicht als Meinungen ausgesprochen werden. Wiederholungen verstärken diesen Effekt.

Die Mutter einer meiner Klienten hatte die Angewohnheit, zu seinen Schwestern zu sagen: „Ihr werdet es noch bereuen, daß ihr ihn geärgert habt. Wenn er groß ist, wird er stärker sein als ihr, und dann werdet ihr sehen, was er mit euch macht!“ Nach unserer gemeinsamen Arbeit schrieb dieser Klient: „Ich zollte meiner Mutter immer großen Dank für solche ‚Interventionen‘. Aber während meiner Arbeit mit Jean wurde mir die unbequeme Wahrheit klar … Meine Mutter vermittelte uns zerstörerische Botschaften. Meine Schwestern lernten, daß, wenn sie groß sein würden, die männliche Person in ihrem Leben ihnen gegenüber ausfallend werden würde; und ich lernte, daß ich, wenn ich groß bin, gegenüber der weiblichen Person in meinem Leben ausfallend werden würde. Und jetzt sehe ich, daß das wahr geworden ist. Dieser versteckte, subtile Mechanismus findet sich in allen meinen bisherigen Beziehungen wieder.“

„Es war hart, der Illusion in die Augen zu sehen, an der ein ängstlich-hoffnungsvoller Teil von mir sich festgeklammert hatte, und sie aufzugeben: daß meine Eltern Recht hatten. Jedoch waren nur noch wenige Sitzungen ernsthafter Neubestimmung nötig (die Bewußtmachung der unbewußten Überzeugungen und die Überprüfung des Wahrheitsgehaltes für mich als Erwachsenen), bis ich die fast schon geheimnisvolle Wirkung unserer Arbeit bemerkte. Ein wellenförmiger Effekt, der aus meinem tiefsten Inneren kam, begann viele verschiedene Gebiete in meiner emotionalen Landschaft zu beeinflussen“

„Es ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich, solche tiefen Veränderungen in Worte zu fassen. Ich fühlte mich einfach gut in meiner Haut. Zum erstenmal in meinem Leben fühlte ich mich dieser Welt gewachsen, dem Fremden auf dem Bürgersteig ebenbürtig, der Person, mit der ich eine Beziehung habe, gleichberechtigt. Ich habe dieses Gefühl nie zuvor gekannt, doch es wurde mir klar, daß ich als menschliches Wesen mit diesem Gefühl ausgerüstet worden war, lange bevor es mir abgewöhnt wurde.“

Der Weg zur Veränderung

Mein Ansatz sieht so aus: zuerst machen wir die Aufdeckungsarbeit, indem wir die Erfahrungen untersuchen, die für die inneren Überzeugungen verantwortlich sind; wir machen die Tatsachen ausfindig und interpretieren und bewerten die entdeckten Erfahrungen neu. Dann verhalten wir uns wie Anwälte, untersuchen vergangene und gegenwärtige Erfahrungen auf Ausdrucksformen irrealer Überzeugungen und sammeln Beweise dafür, was wahr ist und was nicht. Wir errichten einen so starken, überzeugenden Fall, daß dadurch die alten Überzeugungen, die im Unbewußten gespeichert sind, überwunden werden.

Indem man falsche Überzeugungen durch richtige ersetzt, werden die Verzerrungen aufgelöst, die dazu führen, daß das spontane Verhalten eines Menschen nicht mehr seinem Wohlergehen dient. Die Person erlebt dann eine große Veränderung ihrer Lebensqualität, eine echte Umformung.

Man weiß nie im voraus, an welchem Punkt es zu diesen Veränderungen kommen wird. Aber wenn sie eintreten, sind es Veränderungen im Gefühl, nicht bloß in Gedanken. Gefühle sind körperlich, sodaß die Veränderungen im Körper gefühlt werden. Oft kommt es vor, daß eine Person sich dann anders kleidet, anders bewegt und neue Dinge unternimmt.

Eine Frau, die in London zu mir kam, berichtete mir von einer dramatischen Veränderung, bevor ich lernte, solche Vorgänge zu erwarten. Sie wurde in einem asiatischen Land geboren, wo der Brauch herrschte, Frauen, die keine Kinder bekamen, als wertlos zu betrachten. Nachdem ihre Mutter schon sechs Jahre verheiratet war, ohne Kinder zu bekommen, wurde sie endlich schwanger und war überglücklich darüber. Daher wurde meiner Klientin bei ihrer Geburt Begeisterung und viel Beachtung entgegengebracht.

Es war ebenfalls ein Brauch ihres Volkes, männliche Kinder höher zu bewerten als weibliche. Als ihre Mutter drei Jahre später einen Jungen bekam, war das kleine Mädchen so gut wie vergessen. In den folgenden Jahren kämpfte sie ständig mit ihrem Bruder, versuchte, ihn zu kontrollieren, strengte sich an, ihren Platz als Kind Nummer eins zu behalten, und war immer auf der Hut, aus Angst, daß er sie ausbooten könnte. Später in England, als Geschäftsfrau mittleren Alters, arbeitete sie hart und baute ein blühendes Unternehmen auf, aber sie fühlte sich von ihren Angestellten, von denen sie meisten Männer waren, oft ungeliebt und mißverstanden.

Wir hatten einige Monate lang zusammen gearbeitet, als sie eines Nachmittags anrief. „Rate mal, wo ich bin!“, sagte sie. Ich mußte zugeben, daß ich nicht die leiseste Ahnung hatte. „Ich bin in der Tate-Gallery! Es ist das erstemal seit ich vor siebzehn Jahren mit meinem Geschäft begann, daß ich mir an einem Werktag Zeit nehme, um in eine Galerie zu gehen. Das mußte ich dir einfach erzählen! Ich weiß, warum ich nie das Gefühl hatte, meinen Angestellten hinter meinem Rücken vertrauen zu können; wir haben darüber ja oft genug geredet. Heute aber weiß ich, warum ich ihnen vertrauen kann, und sie halten die Firma ohne mich in Gang. Ich fühle mich wie eine neue Frau, frei, in Galerien zu gehen, oder wohin ich auch immer will.“

Im Laufe der Zeit ereigneten sich weitere, bemerkenswerte Veränderungen. Ein Mann hatte als fünfjähriges Kind zugesehen, wie sein Vater seine Mutter und zwei Männer ermordete, die er mit ihr im Bett vorgefunden hatte. Die Waffe war eine Eisenstange. Jahrelang hatte der Sohn das Geschehnis verdrängt. Schließlich kam er in eine Abreagier-Gruppe, um sich der Tragweite des Geschehenen zu stellen. Hier erwähnte er, daß ihm bis ins Alter von fünf Jahren immer gesagt worden war, er sei genau wie sein Vater. Und tatsächlich, er machte einen rauhen, harten Eindruck. Seine Sprache war dermaßen mit ordinären Wörtern gepfeffert, daß sie manchmal sogar mitten in anderen Worten auftauchten. Und er verließ dauernd den Raum, um im Flur zu rauchen.

Nach einiger Diskussion rekonstruierten wir die Szene des Verbrechens. Er übernahm die Rolle seines Vaters und wählte zwei Männer und eine Frau aus, die die Opfer spielen sollten. Bewaffnet mit einem Schaumstoffstück, das mit dem Wort „Eisenstange“ beschriftet war, ging er zu der verabredeten Stelle und holte aus. Plötzlich hielt er inne, brach zusammen und lachte so, als ob es gleich in Weinen übergehen würde. „Ich will sie nicht töten!“, sagte er sanft, „Ich bin nicht wie mein Vater. Überhaupt nicht.“

Die furchterregende Überzeugung löste sich schließlich auf. Sein inneres Wissen, daß er kein Mörder war „wie sein Vater“, war das entscheidende Beweisstück, das er brauchte, um sich nicht nur von seiner schädlichen Überzeugung zu lösen, sondern auch von den offensiven und defensiven Verhaltensweisen, die sich aus dieser Einstellung ergaben. Seine Sprache wurde frei von Obszönitäten, er hörte mühelos vollständig auf zu rauchen. Nachdem er die Wahrheit erkannt hatte, konnte er endlich der Mann werden, der er in Wirklichkeit war.

Es wurde klar, daß wir Erwachsenen begreifen müssen, daß unsere Eltern unrecht hatten, um zu sehen, daß wir achtbar und willkommen sind und es immer waren, Daher störte es mich, meine Klienten über den modernen „Vergib-ihnen“-Ansatz mit ihren Eltern zu versöhnen. Seinen Eltern zu vergeben und dafür hinzunehmen, daß man ständig mit dem Gefühl lebt, immer unrecht zu haben, schien mir noch weniger attraktiv. Es zeigte sich, daß es am hilfreichsten war, den Klienten zu helfen, von der elterlichen Autorität loszukommen und ihnen klarzumachen, daß diese ihrerseits tragische Opfer des unangemessenen Verhaltens ihrer Eltern waren. Die Idee bestand einfach darin, zu erkennen, wie Mutter und Vater zu ihrem Verhalten gekommen waren, und dadurch unseren „Fall“ gegen die Akzeptanz dieses Verhaltens zu stärken.

Glücklicherweise habe ich herausgefunden, daß wir keine Anstrengungen unternehmen müssen, unseren Eltern zu verzeihen. Wenn die göttlichen Autoritäten auf menschliche Dimensionen reduziert worden sind und wir nicht meinen, wir müßten ihnen unseren Wert beweisen, dann erleben wir ein tiefes Gefühl der Befreiung. Gleichzeitig verschwindet die jahrelang aufgestaute Frustration, die durch unsere Versuche entstand, sie für uns zu gewinnen oder uns selbst einzureden, sie wären uns egal, oder gar, daß wir sie haßten.

Wenn wir nicht mehr unter dem Zwang stehen, uns durch die Augen unserer Eltern zu sehen, dann gibt es keinen Grund mehr zu grollen. Wir sind frei. All die unangenehmen oder unerträglichen Ärgernisse mit unseren Eltern werden durch eine Zwanglosigkeit abgelöst, durch ein tiefes Verständnis dessen, was wir alle durchgemacht haben. Und unweigerlich entwickelt sich ein neues, leichtes Mitgefühl für die auf menschliche Größe geschrumpften, lieben Alten.


(c) Jean Liedloff, 1991

Erschienen in: Mothering Magazine Nr. 61, Herbst 1991, Originaltitel: Normal Neurotics like us

Übersetzung ins Deutsche: Erhard Steller, Landau

Jean Liedloff stammt aus New York, hat das Drew Seminary for Young Women abgeschlossen und ging dann zur Cornell University, begann aber ihre Reisen, bevor sie einen Abschluß gemacht hatte. Nach fünf Expeditionen zu den Indianern von Venezuela schrieb sie ihre Beobachtungen in dem mit großem Beifall aufgenommenen Buch Auf der Suche nach dem verlorenen Glück (Originaltitel: The Continuum Concept) nieder. Sie schreibt für die Sunday Times und ist Mitbegründerin der Zeitschrift Ecologist Inzwischen hält sie Vorträge vor Studenten, Ärzten, Eltern, Psychotherapeuten und anderen, die Abhilfe für persönliche Entfremdung und soziale Mißstände finden wollen. Sie lebt in Sausalito, Kalifornien, und gibt Therapiestunden auf ihrem Hausboot oder für Menschen aus aller Welt über Telefon unter der Nummer: 001-415-332-1570.